Leitung: Niklas Zahner

magazin@koelncampus.com

Glühbirne I Meine politisch inkorrekten Kindheitshelden

Verfasst von am

Heute vor 73 Jahren erschien mit Pippi Langstrumpf der erste Roman von Astrid Lindgren. Die Geschichte über das schier unglaublich starke Mädchen avancierte schnell zum absoluten Klassiker der Jugendliteratur und wurde auch außerhalb Schwedens das Lieblingsbuch unzähliger Kinder. Pippi ist stark, schlau, witzig – und die Tochter eines, wie sie selbst sagt, „N****königs“. Total rassistisch. Wie gehen wir mit veralteten Denkmustern und politisch inkorrekten Begriffen in unseren liebsten Kinderbüchern um?

(CC-0) LubosHouska / pixabay.com

Ärger im „Taka-Tuka-Land“

Beim Lesen Pippi Langstrumpfs unglaublicher Abenteuer hat mich stets eine Mischung aus Bewunderung, Unruhe und unterschwelliger Trauer begleitet. Ihre Mutter war tot, und trotzdem eierte ihr edler Vater lieber im „Taka-Tuka-Land“ umher, anstatt abends seiner kleinen Tochter vorzulesen. Als amtliche siebenjährige Spaßbremse war ich empört, dass die dezent analphabetische Pippi immer auf sich allein gestellt war, und das anscheinend auch noch toll fand. Das "N-Wort" war mein kleinstes Problem. Ein Relikt aus einer vergangenen Zeit. Völlig klar, dass man das heute nicht mehr sagt (ich war außerdem ein Klugscheißer). Der Disclaimer meines Pippi-Langstrumpf-Hörbuchs verwies ebenfalls darauf, es heiße heutzutage „Schwarze“. Na also, alles geregelt. Oder?

Alles gar nicht so gemeint?

Die Debatten der vergangenen Jahre zeigen: So einfach ist es eben nicht. Schon seit den 1970ern existieren Rassismusvorwürfe gegen den schwedischen Kinderbuchklassiker. Buchverlage wie Oetinger oder der schwedische Fernsehsender SVT haben schon vor einigen Jahren Begriffe wie „N****“ oder diskriminierende Filmszenen gestrichen. 2013 verkündete die damalige Familienministerin Kristina Schröder, ihren Kindern entsprechende Passagen bewusst nicht vorzulesen – und löste damit Diskussionen aus. O-Ton: Das sei ja gar nicht rassistisch gemeint, damals war das ganz normal, die Streichung und Anpassung der Sprache gliche Zensur. Auch Lindgren hatte zu Lebzeiten eine Bearbeitung ihrer Bücher untersagt. Zahlreiche Kinderbücher sind durch „koloniale Altlasten“ und politisch inkorrekte Begriffe somit in die Kritik geraten, darunter Ottfried Preußlers „Die kleine Hexe“ und Michael Endes „Jim Knopf“. Über die Frage, wo literarische Freiheit und veralteter Sprachgebrauch aufhören und diskriminierende Denkmuster beginnen, wird bis heute gestritten.

Das ist die Geschichte von Kolonialismus“

Die Autorin Sharon Dodua Otoo sieht das Rassissmusproblem nicht nur in unpassenden Bezeichnungen für schwarzen Menschen, sondern noch viel tiefer verankert. Entscheidend sei nicht das „N-Wort“, sondern viel mehr „dass Pippis Vater irgendwo hinsegelt und sagt „Ich bin jetzt König“, das ist kurz gesagt die Geschichte von Kolonialismus.“ Otoo plädiert für einen Diskurs ohne rassistische Begriffe und spricht sich für eine kontinuierliche Bearbeitung beleidigender Passagen aus - mit Zensur oder der Beschränkung künstlerischer Freiheit habe das nichts zu tun.

Die Kritik leuchtet ein und macht zugleich ratlos. Denn die bloße Streichung rassistischer Begriffe genügt nicht, wenn das ganze Erzählmuster diskriminiert. Der Grad zwischen üblen Beleidigungen und weniger gravierenden problematischen Inhalten scheint schmal.

Mutig oder mädchenhaft

Noch komplizierter wird es beim Thema Sexismus in der Jugendliteratur. Selbst in Neuerscheinungen wimmelt es von stereotypen Rollenbildern à la weibliche Randfiguren als mütterliche Heimchen und männliche Protagonisten als unerschrockene Abenteurer. Dagegen ist Lindgrens Hauptfigur Pippi Langstrumpf übrigens ziemlich fortschrittlich.
Ganze Generationen an Frauen sind aufgewachsen mit Enid Blytons „Fünf Freunden“. Während die außerordentlich hübsche Anne wenig relevantes zur Handlung beitrug, scheute George kein Abenteuer. Doch um Autorität in der Gruppe zu haben, musste sie so wenig mädchenhaft wie möglich sein. Die Message: Frauen müssen sich entscheiden – begehrt oder respektiert werden. Beides geht nicht. Auch Blytons Romane wurden seit den 80er Jahren hinsichtlich diskriminierender Passagen gegenüber Schwarzen und Frauen mehrfach korrigiert. Es hagelte harsche Kritik. Noch 2006 schrieb ein Kolumnist in „Die Welt“, Political Correctness verletze „die historische Gestalt eines literarischen Originals“ - der restliche Artikel bleibt weit weniger höflich. Stellen sich bloß alle zu sehr an? Ist nicht mal Kunst vor Political Correctness sicher?

Die jahrelangen Debatten über die (Roman)welten unserer Kindheitshelden zeigen: Wir brauchen den Diskurs über literarische Sprache – denn deren Bedeutung für unser Handeln und Denken wird nach wie vor unterschätzt. Es hilft nichts, sprachliche Diskriminierung als vergangene Missetat abzutun, wenn Wörter wie „N****“ gerade heute stärker beleidigend empfunden werden als früher – unabhängig davon, ob das intendiert war oder nicht. Die Verletzung künstlerischer Freiheit über die Würde von Menschen zu stellen ist zynisch. 

Und dennoch scheinen wir nicht alle vergangenen literarischen Ungerechtigkeiten tilgen zu können – aus den Fünf Freunden wird wohl kein feministisches Manifest mehr. Muss es auch nicht. Aber Rollenklischees und Stereotype ziehen einen langen Schatten nach sich, der sich bis in die Neuerscheinungen hineinschleicht und uns alle beeinflusst. Wer das erkannt hat, kann neue Kindheitshelden erschaffen. Und die alten trotzdem mögen.


Zurück zur Übersicht

Sag's weiter: