Leitung: Maximilian Latz, Nadja Heckelsberg

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Uncool Britannia

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Aus Britpop und "Lad"-Culture werde Brexitpop und Postpunk - Die britische Band Shame verkörpert mehr als nur die Mentalität einiger Tweens, sondern den Zeitgeist einer zweigeteilten Generation im Vereinigten Königreich.

Yonca Yildirim

SHAME zeigen sich mit dem wohl uncoolsten Fahrzeug, das sich ein Rockstar vorstellen kann: In ihrem Video zu “One Rizla” lassen sich die britischen Postpunker über grüne Felder chauffieren. Die Limousine ist nur leider ein Rasenmähertrecker. Noch dazu geht die Band einem älteren Landwirt ziemlich auf die Nerven: “They won’t go home. They’re upsetting the animals.” Hat die Band “Grassroots”-Bewegung anders interpretiert?

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So oder so, dem musikalischen Image wird das weniger schaden. Das ultimative Ziel eines Lederjacken tragenden, Drogen liebenden Rockstars? Verabscheuen SHAME aus Südlondon. Die beiden Charlies der Band, Steen und Forbes, posen nicht nur mit niedlichen Schweinchen für Plattencover und Pressefotos, sondern verrieten zudem in einem Interview mit dem Guardian, dass diese stereotypischen Rock-Vorbilder der letzten Jahrzehnte “verbrannt”, sogar “für immer zerstört” werden sollten. Offen proklamierte David Bowie- und Iggy Pop-Fans sind sie trotzdem.

Shame

Vielleicht ist es dieser Widerspruch, den die Band ausmacht: Zum einen das Auszehren der britischen Rock-, Punk-, Independent- und Britpop-Geschichte und des sicheren Markt-Oligopols der britischen Indie-Labels, zum anderen das Rebellieren gegen eben diese inzwischen zu oft gesehene Plattitüde von mehr Coolness als Inhalt, mehr Style als Vernunft und Kritik am System. Im Gegensatz zu bekannten Kollegen wie FAT WHITE FAMILY lassen Steen & Co zudem lieber die Finger von harten Drogen. Das Zuschauen und Nachlesen verrockter Musiker-Biografien genüge als Inspiration und Antriebskraft. Selbst am Rockstar-Leben verbrennen? Um Shame zu zitieren: 

“You’ve got the wrong idea.”

Apropos Ideen: SHAME haben schon in ihrem zarten Alter genaue Vorstellungen davon, wie die Politik ihrer Zeit nicht sein sollte. Mit Theresa May als Premierministerin und dem Protest der Musikszene gegen die Konservative (man nehme Damon Albarns Nebenprojekt “The Good, the Bad and the Queen” als weiteres Beispiel) ist es nicht gerade höhere Mathematik, die Parallelen zu den 1980ern und der Gegenwart zu erkennen: So hatte schon damals ein Großteil der Bevölkerung ziemlich schnell die “Upper Middle-Class”-Politik Margaret Thatchers satt und ließ linke Bands wie beispielsweise The Smiths den Frust der gesamten Arbeiterklasse in zeitgerechte und gleichzeitig zeitlose Musik umwandeln. Genau 30 Jahre nach der Auflösung der Thatcher-kritischen Band rund um Sänger Morrissey veröffentlichte Shame die May-Persiflage “Visa Vulture”.

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Im untypisch unruhigen Protest-Song "Visa Vulture" beklagen sich Shame unter anderem über Mays "sideway smile" und ihr nicht vorhandenes moralisches Bewusstsein für andere, vor allem Betroffene wie die LGBTQ+-Community. Das Musikvideo zeigt die fünf Bandmitglieder auf einer grünen Wiese picknicken; inmitten ihrer karierten Decke ist ein eingerahmtes Foto Theresa Mays aufgebahrt. Es scheint ein hölzerner, mit Blütenblättern dekorierter Sarg zu sein, in dem sich Mays Gesicht im Video blicken lässt. An Humor mal wieder eine Parallele zur Ironie à la The Smiths (The Queen Is Dead). Kitschig-schräg wird dann im Refrain die Brexit-Politik der Premierministerin direkt adressiert: Theresa May, why won't you let me stay? Just one more day?  Stay ist bekanntlich ein Synonym für #Remain, was beim Brexit-Referendum für das Verbleiben in der EU stand. Man merkt: In der Ära des “Brexitpops” ist es nichts Untypisches, durch Songs den Ärger und die Wut vieler Briten heraus zu posaunen.

Am 12. Dezember 2018 standen eben diese Anfang-20-Jährigen im Luxor auf der Bühne. Sänger Charlie Steen in Anzughose und einem verschwitzten Hemd nach feiner englischen Art, später oberkörperfrei; Bassist Josh Finerty im gelben “So Young Magazine”-Shirt. Es wurde gepogt, in die Menge gesprungen und auf den Schultern der Fans ausgepowert - eben jede Nuance des Rockstar-Klischees ausprobiert. Und dennoch war unsere Gefühlslage danach eher lauwarm statt heiß.

Yonca Yildirim

Yonca Yildirim

So hatte die Band im Jahre 2018 unzählige Konzerte gespielt, bis Sänger Charlie Steen sich schließlich über Übelkeit, Panikattacken und Verdauungsprobleme beschwerte. Verstärker hatte dies selbst auf dem Dour Festival in Wallonien, Belgien miterlebt. Zwar spielte Shame ein ekstatisches, brillantes Set auf der Bühne der "La Petite Maison de la Prairie", dennoch saß Steen nach dem Konzert vor dem Zelt, in dem er eben gespielt hatte, erschöpft und auf Medikation gegen ein Fieber, das ihn plagte. Er lehnte im gleichen Zuge ein Bier ab, das ihm ein Fan gekauft hatte. Das Leben eines Rockstars, auch mit gesunden Ambitionen, ist also doch kein Ponyhof.

Auch wenn SHAME die Menge gekonnt anheizte, wird das Datum 12.12.18 vom Konzert im Luxor bei den meisten anders in Erinnerung bleiben: Der Tag, an dem das Vereinigte Königreich durch das abgelehnte Misstrauensvotum gegen Premierministerin May fast die Kurve gekriegt hätte. Der Abend, der dann doch so enttäuschend für so viele Twenty-Somethings in England, Wales, Schottland und Nordirland werden sollte. Die Ernüchterung: Der Brexit wird höchstwahrscheinlich Ende März 2019 stattfinden. Als Trost bleiben uns die Bandshirts und Lieder von Bands wie Shame: Auf dem einen Merchandise-Oberteil sieht man damalige Home Secretary Theresa May mit blutunterlaufenen, schwarzen Rabenaugen und Hörnern, welche sie ganz klar zum Dämon schlechter Politik, aber noch immer guter, britischer Musik krönt.  Shame scheinen diesen bösen Geist mit hunderten Gigs austreiben zu wollen. Ob es ihnen gelingt?

Wiebke Reimers

Vielleicht war auch Theresa May irgendwo in der Menge, stocksteif tanzend zu den “Songs of Praise”. Wenn nicht physisch vor Ort, so war sie in den Köpfen der Konzertgänger stets präsent. Nicht zuletzt in dem bibbernden Unterbewusstsein der schwitzenden Postpunker auf der Bühne, für die jeder Gig im Brexit-Zeitalter zum bloßen Überlebenskampf auf dem europäischen Musikmarkt wurde. Der “Visa Vulture” aka Theresa May schnappt ihnen die offenen Grenzen weg. Dieser Geier nimmt ihnen nicht nur Chancen und Perspektiven eines Rockstars, sondern stiehlt dem Vereinigten Königreich sein wohl wichtigstes Image: 

Goodbye “Cool Britannia” aus Blairs Zeiten.
Hello Uncool Britannia unter May. 

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