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Frühstückslektüre | "Ich will einfach normal sein."

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Das Geräusch des dröhnenden Motors kündigt das Kommen des Linienbusses bereits an, bevor er um die Ecke biegt. Ein sportlicher junger Mann mit dunklen Haaren, dunklen Augen und modisch spitz zulaufenden Lederschuhen blickt nicht auf, als der weiß-blaue Bus heranfährt. „Das müsste die 7 sein, oder? Die 2 kommt direkt danach.“ Vor dem Einsteigen kramt er einen rosa-grünen Ausweis mit Lichtbild aus seiner Jackentasche. Der ältere Mann vor ihm hat ein ähnliches Dokument, das er dem Busfahrer zeigt: „Schwerbehindertenausweis – gültig bis: unbefristet“. Auch der junge Mann zeigt seinen Ausweis, der Busfahrer nickt routiniert und lässt ihn passieren – man kennt sich offenbar. Nichts Besonderes mehr dieser junge Mann, der jeden Tag gegen 16 Uhr an der Haltestelle „St. Bernhard Hospital“ einsteigt.

Das war auch schon mal anders: Busfahrer, die den jungen Mann angeraunzt haben „Kauf dir doch ne‘ Brille!“ oder „Guck doch selber!“, als er sich nach dem Fahrtziel der Linie erkundigt. „Immer besser man fragt die umstehenden Leute, die helfen einem eigentlich immer!“. Eigentlich müsste er eine Kennzeichnung als Band am Arm tragen – so steht es in seinem Ausweis – aber der junge Mann möchte nicht hilfsbedürftig wirken. „Ich will nicht, dass mich die Leute angucken, ich will einfach normal sein.“ Man sieht es ihm also nicht an: Jan ist 25 Jahre alt und schwerstsehbehindert. Er leidet an der seltenen Augenkrankheit „Morbus Stargardt“. Ein Gendefekt, der schrittweise die kleinen Zäpfchen, die im Auge für den schärfsten Punkt des Sehens verantwortlich sind, zerstört. Übrig bleibt das verschwommene periphere Sehen – unmöglich zum Beispiel das Erkennen von Gesichtern oder einfach nur Lesen.

Jan steht an seinem Schreibtisch, er blickt auf seine drei Bildschirme. Der Platz ist geordnet, nur eine kleine Blechdose des Fußballvereins St. Pauli und ein Bild seiner Freundin Elisa zeigen eine persönliche Note. Eine Apparatur mit langem beweglichen Arm ist an der Tischkante befestigt. Sie vergrößert das darunter platzierte Dokument auf das zehnfache auf den linken Bildschirm. Die beiden anderen Monitore zeigen ein Excel-Dokument in vergrößerter und originaler Form. Der Mauszeiger hat die Größe eines Daumens, die Pixel der Linien sind deutlich zu erkennen. Das Blindenprogramm „Kobra“ und eine hochauflösende HD-Kamera erleichtern Jan den Arbeitsalltag als Mitarbeiter der Personalabteilung des Krankenhauses.

Diese Hilfsmittel im Wert von mehreren tausend Euro hat er sich über die Versicherung beschafft, das war nicht immer so einfach. Dank eines engagierten Lehrers durchlief er seine Schulzeit auch ohne finanzielle Unterstützung, denn „das Abitur ist lediglich Privatvergnügen“, so die Versicherung. Bereits mit 18 wird die Krankheit bei Jan diagnostiziert, als er beim Autofahren plötzlich die Straßenschilder nur noch schlecht erkennen kann. Diverse Brillenstärken helfen nicht mehr weiter und nach einer Vielzahl von Untersuchungen bei verschiedensten Ärzten, denen die Erkrankung zum Teil vollkommen unbekannt ist, kommt die Diagnose. „LKW-Fahrer wird er jetzt wohl nicht mehr werden!“, so fällt die schlichte Antwort auf die Frage aus, welche Auswirkungen die Krankheit auf seine Zukunft haben wird.

„Fahrradfahren, um einen kurzen Weg mal eben schnell zu fahren – das vermisse ich!“
Was sich seitdem verändert hat? Für Jan eigentlich nicht so viel. Er fühlt sich nicht eingeschränkt, eine OP mit der Option einer kurzzeitigen Sehverbesserung lehnt er strikt ab. „Fahrradfahren, um einen kurzen Weg mal eben schnell zu fahren – das vermisse ich!“, sagt er nach langem Nachdenken. „Aber das mache ich manchmal trotzdem heimlich, wenn Elisa nicht da ist.“ Auf dem Nachhauseweg läuft Jan zügig, er blickt nicht hilfesuchend auf den Boden oder zur Seite. Er ist selbstsicher, diesen Weg nimmt er täglich und das mit Bravour. Manchmal – wenn es noch dunkel ist – stößt er gegen eine Mülltonne, die ein Anwohner unbedacht mitten auf den Gehweg gestellt hat. Blindsein hätte viel mit Auswendiglernen zu tun, sagt er. Er lässt sich von nichts aufhalten: Seit einiger Zeit gehen Jan und Elisa gemeinsam laufen. Alleine Sportmachen darf er nicht mehr. Deshalb wird er von Elisa als Begleitperson an einem Band geführt. Der nächste Schritt sind die Deutschen Meisterschaften.

Die gemeinsame Wohnung ist groß, aufgeräumt und stilvoll mit vielen Bildern eingerichtet. Schon auf den ersten Blick erkennt man: hier wohnt ein Musiker. Sieben von Jans Gitarren hängen an einer Wand, eine weitere liegt im Schlafzimmer. Das Herzstück des Wohnzimmers ist die riesige Soundanlage mit zwei etwa hüfthohen Boxen aus Klavierlack und einem Plattenspieler. „Taubsein fände ich am schlimmsten – da bin ich lieber komplett blind!“. Beim gemeinsamen Fernsehen trägt Jan eine spezielle Lupenbrille mit dicken Gläsern und zusätzlich vorgeschobenen Lupen, deren Schärfe über zwei Rädchen am Gestell eingestellt werden können. Sein Traum ist die „OrCam“. Eine unauffällige Brille mit Kamera, die ihm über seinen Gehörknochen Schrift vorlesen kann. Der nächste Schritt, „ganz normal“ zu sein. In Deutschland leiden derzeit 8000 Betroffene an „Morbus Stargardt“. Langfristige Therapiemöglichkeiten gibt es bisher keine. Elisa macht sich manchmal Sorgen, schließlich wird sie ja die meiste Verantwortung tragen. „Man muss die Dinge nehmen wie sie kommen“, sagt Jan lächelnd. Klar ist: Er hat keine Angst vor der Zukunft, genauso wenig wie vor dem Jetzt.

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